Zwingli, Gott und UZH

Montag, 19. Juni 1525, um 8 Uhr morgens: Eine Gruppe von Pfarrern, Chorherren und Schülern versammelt sich im Zürcher Grossmünster. Die Männer setzen sich auf die Holzbänke zuhinterst im Chor und beten zu Gott, er möge sie leiten, die Heilige Schrift richtig zu verstehen. Dann schlagen sie die Bibel auf, lesen und übersetzen – in Latein, Hebräisch und Griechisch. Sie beginnen ganz zuvorderst bei Genesis 1 – «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde». In der Folge arbeiten sie sich vor, Vers für Vers, Tag für Tag, ausser Freitag, dem Markttag, und Sonntag.
Es sind dies die ersten «Vorlesungen» in Zürich überhaupt. Vielleicht wäre «Seminare» das bessere Wort, da der Austausch ausdrücklich erwünscht ist. Die Bibelstunden, die als «Prophezey» bekannt sind, sollten zum Vorläufer der höheren Bildung in Zürich werden. Nur wenige Jahre später kommt mit Conrad Gessner ein erster Naturwissenschaftler an das Grossmünsterstift. Später werden dort auch Handwerkskunst, Geografie und Französisch gelehrt. Doch das alles braucht viel Zeit: Erst 1833, also drei Jahrhunderte nach der «Prophezey», wird die Universität Zürich offiziell gegründet.
Von alledem wissen die Herren, die sich 1525 erstmals treffen, nichts. Die Reformation ist gerade in vollem Gang. Der Zürcher Rat hat Huldrych Zwingli, Leutpriester am Grossmünster, grünes Licht gegeben für die «Prophezey». Damit sollen Hebräisch, Griechisch und Latein gelehrt werden – die drei Sprachen, die «zuo rechtem verstand der göttlichen gschriften ganz notwendig sind». Die Lektionen sollen gemäss dem Auftrag von «gelert, kunstrich, sittig männer» gehalten werden – also Männern wie Zwingli, der in Wien die «sieben freien Künste» sowie in Basel Theologie studiert hatte. Als Resultat der täglichen Seminare sollte Jahre später die Zürcher Bibelübersetzung entstehen.
Altgläubige Pfarrer «umerziehen»
500 Jahre nach den Urvätern der Universität steht Judith Engeler vor dem Grossmünster-Chor und erklärt, warum es falsch wäre, Zwingli als Gründervater der Forschung im heutigen Sinn zu bezeichnen. «Er wollte in erster Linie die altgläubigen Pfarrer ‹umerziehen›», sagt sie. So wurde die «Prophezey» für die Geistlichen der Stadt auch zur Pflichtveranstaltung gemacht.
Engeler ist Postdoktorandin und Habilitandin an der UZH und hat im Rahmen ihrer Doktorarbeit zur Reformation geforscht. Konkret untersuchte sie die Vorgänge rund um das Erste Helvetische Glaubensbekenntnis von 1536. Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 500-Jahr-Jubiläum der «Prophezey» erarbeitet sie gemeinsam mit Studierenden eine kurze Führung zu den Ereignissen von damals (siehe Kasten unten). Das Beispiel der «Prophezey» zeige, dass die Reformation keineswegs von unten stattgefunden hat, führt Engeler aus. «Die schöne Idee der Reformation, wonach jeder die Bibel selber lesen und verstehen sollte, war damals einfach nicht praktikabel.» Einerseits, weil längst nicht jeder lesen konnte. Andererseits, weil eine Bibel für die allermeisten viel zu teuer war. «Sie kostete einen Handwerkermeister einen halben Monatslohn.»
Dass es vielmehr eine «Reformation von oben» war, zeigte sich auch bei Zwingli selbst. Er persönlich habe, nachdem die Bibelstellen in verschiedenen Sprachen vorgetragen und miteinander verglichen worden waren, die Gesamtdeutung des Textes übernommen. «Nach den Übersetzungen und Diskussionen sagte er mehr oder weniger, was gilt», so Engeler. Historischen Quellen ist zu entnehmen, dass im Anschluss an die Seminare jeweils um 9 Uhr ein Gottesdienst für das Normalvolk stattfand. Ein Pfarrer übersetzte das zuvor in verschiedenen Sprachen Gelernte «in guot Tütsch».
Verstehen, wer wir sind
Dass es Theologen waren, die am Ursprung der Gründung der Universität Zürich standen, ist nicht aussergewöhnlich. Auch die meisten anderen Hochschulen Europas gehen auf Institutionen zurück, in denen ursprünglich Pfarrer ausgebildet wurden. Das Schulwesen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war Aufgabe der Kirche. Staatliche Schulen gab es damals noch nicht. Wer es sich leisten konnte, besuchte wie Zwingli eine private Lateinschule und studierte danach an einer der wenigen Universitäten in Europa, Basel, Heidelberg, Wien, Paris, Mailand, Bologna oder Pisa. Ziel von höherer Bildung war es oft, das Volk religiös zu erziehen. Die «Prophezey», zwischen Lateinschule und Universität angesiedelt, bildete dabei keine Ausnahme.
Als Pfarrerin und Theologin an der Universität Zürich ist Judith Engeler eine Nachfolgerin der Gelehrten der «Prophezey». Sie repräsentiert aber auch die heutige Generation von Theologinnen, die mit den «gelert, kunstrich, sittig männer» von damals praktisch nichts zu tun haben: jünger, diverser, moderner. Und was die Studieninhalte betrifft: wissenschaftlich frei statt an ein Bekenntnis gebunden.

Dafür hat die heutige Generation von Theologen mit anderen Problemen zu kämpfen, die den Theologen von damals fremd waren. Die reformierte wie auch die katholische Kirche verlieren seit Jahrzehnten dramatisch an Mitgliedern. Entsprechend schwindet die Bedeutung von Kirche und Theologie. Was verlieren wir dabei? Wo kann sich die Theologie heute noch einbringen? Um diese Fragen zu beantworten, bittet Engeler in ihr wenige Schritte entferntes Büro im Theologischen Seminar. Dieses befindet sich in den Räumlichkeiten des ehemaligen Chorherrenstifts.
Dorthin verlegten die Gelehrten ihre Bibelstunden nach einiger Zeit. Denn die «Prophezey» koppelte sich immer mehr vom anschliessenden Gottesdienst ab. Ausserdem war es im Chor des Grossmünsters im Winter richtig kalt – da kam den Gelehrten die «Chorherrenstube», der einzige beheizbare Raum weit und breit, gerade recht. Noch heute gibt es im Stift einen Kreuzgang, doch der Bau ist mehrheitlich nicht mehr original. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Grossmünsterstift abgebrochen und durch den Neubau einer Mädchenschule ersetzt.
In ebendiesem Kreuzgang bleibt Engeler kurz vor einem Druck an der Wand stehen, der Zürich im Jahr 1576 zeigt. «Wie klein die Stadt damals war», sagt sie und zeigt auf den Ort, wo sich heute das Hauptgebäude der Universität Zürich befindet – ausserhalb der Stadtmauer. Der Standort des heutigen Hauptbahnhofs befindet sich am äussersten Rand der Karte.
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Unsere Gesellschaft ist massgeblich vom Christentum geprägt. Das Bedürfnis nach Sinndeutung ist heute genauso vorhanden wie früher.
Als sie schliesslich auf ihrem Bürostuhl sitzt, sagt Engeler: «Die Bedeutung von Religionen nimmt nicht ab.» Sie denkt kurz nach, erwähnt die Entwicklungen in den USA und andernorts auf der Welt, wo Fundamentale mehr denn je das Sagen haben, und präzisiert: «Vielleicht kann man sagen: Die Bedeutung reflektierter Religion nimmt ab.» Sie sieht viele Themen, wo sich Theologinnen einbringen könnten. «Denn den Glauben an irgendwas wird es immer geben.» In ihrer Rolle als Kirchenhistorikerin könne sie dazu beitragen, zu verstehen, warum wir sind, wer wir sind. «Unsere Gesellschaft ist massgeblich vom Christentum geprägt. Und das Bedürfnis nach Sinndeutung ist heute genauso sehr vorhanden wie früher.»
Eine wichtige Aufgabe von Theologie für die Gesellschaft sieht Engeler darin, ideologiekritisch zu sein. «Wir müssen uns bewusst sein, dass wir immer falschliegen können. Auch wenn wir heute noch so sicher sind, dass beispielsweise Aufrüstung das Richtige ist. In 100 Jahren wird man vieles, was wir heute tun und was wir ehrlich und redlich für das Beste halten, ganz anders beurteilen.»
Götter als moralische Instanzen
Zur Frage, was die Theologie der Gesellschaft heute noch zu sagen hat, hat auch Konrad Schmid einiges zu sagen. Der UZH-Professor ist Vorsteher des Theologischen Seminars und einer der renommiertesten Theologen der Schweiz. Schmid beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie der Glaube an eine höhere Macht zu einem zentralen Faktor für die Ordnung der Gesellschaft wurde. Ein von ihm initiiertes und von der EU gefördertes Forschungsprojekt trägt den Titel «How God became a lawgiver». Schmid sagt: «Wir fragen uns, wie es überhaupt dazu kam, dass Menschen nicht nur an Götter glaubten, die Blitze vom Himmel schickten oder die Erde beben liessen, sondern auch an Götter als moralische und rechtliche Instanzen.»
So gibt es im Alten Testament auch zahlreiche juristische Passagen, die als Gottesrecht präsentiert werden. Zum Beispiel wird im zweiten Buch Mose die Todesstrafe erwähnt: «Wer einen Menschen schlägt, so dass er stirbt, muss getötet werden.» Aber auch ganz banale Vergehen werden geschildert und Strafen vorgeschlagen: «Wenn jemand eine Zisterne offen lässt (...) und es fällt ein Rind oder ein Esel hinein, muss der Besitzer der Zisterne Ersatz leisten. Er muss dem Besitzer des Tieres Geld erstatten, das tote Tier aber gehört ihm.»
«Die Bibel ist ein altes Buch», sagt Schmid, «das sollte man nie vergessen. In Teilen ist sie patriarchal, xenophob, sexistisch. Auf jeden Fall nicht politisch korrekt.» Ihre Schriften müssen deshalb historisch und kritisch gelesen werden, da sie in eine vergangene, nicht in unsere Zeit hineinsprechen.
Warum sollten wir uns heute noch mit der Bibel und der Religion beschäftigen? Zum einen gehe vergessen, dass schweizweit nach wie vor mehr Menschen am Sonntag in Gottesdienste gehen als zu manchem Vereinsanlass, so Schmid. Zum anderen sagt er: «Alle Menschen sind im weiteren Sinne religiös.» Er begründet dies damit, dass «niemand darum herumkommt, sich mit zwei fundamentalen geistigen Herausforderungen zu beschäftigen.» Erstens: unsere Endlichkeit. Zweitens: die Zufälligkeit unserer Existenz. «Alle werden sterben. Und niemand kann sich aussuchen, ob er im dritten Jahrhundert in Afrika oder im 20. Jahrhundert in der Schweiz auf die Welt kommt.» Mit diesen beiden Fragen, die unsere Kultur massgeblich geprägt hätten, beschäftige sich die Theologie. «Und wer über diese Fragen nachdenkt, denkt im Grunde religiös», so Schmid.
«Geistige Verwahrlosung»
Auch Schmids Büro befindet sich im ehemaligen Grossmünsterstift, auf der diagonal gegenüberliegenden Seite des Kreuzgangs. Zur Frage, was die Theologie zu aktuellen politischen Debatten beitragen kann, sagt der UZH-Professor: «Ein Auftrag von Theologen ist es, Schindludereien zu entlarven, die mit Religion getrieben werden.» Als solche bezeichnet er beispielsweise das unter amerikanischen Evangelikalen verbreitete «Prosperity Gospel», das sogenannte Wohlstandsevangelium, wonach Reichtum ein Zeichen für Gottes Erwählung sei. «Während sich die Debatten um ökonomische Fragen drehen, sehe ich vor allem geistige Verwahrlosung in einem Land, das nur mehr das Recht des Stärkeren durchsetzen will», sagt Schmid.
Konrad Schmid ist keiner, der sich im Kleinklein von theologischem Fachwissen verliert. Wenn er spricht, zeichnet er immer auch das ganz grosse Bild mit. Als der emeritierte UZH-Professor Carel van Schaik und Kai Michel vor einigen Jahren mit ihrem Buch «Das Tagebuch der Menschheit: Was die Bibel über unsere Evolution verrät» durch die Schweiz tourten, war er es, der die Debatte mit dem Anthropologen und dem Historiker um das Erbe der Bibel aufnahm.
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Wir Menschen sind viel stärker von dem geprägt, was wir nicht kontrollieren können, als von dem, was in unserer Macht steht.
Wie Engeler sieht Schmid eine Funktion der Theologie auch in der Ideologiekritik. Er beschreibt sie mit der «Ethik des Vorletzten», die der Theologe und Nazi-Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer geprägt hatte. Unsere Welt sei nur das Vorletzte, so die Idee. Das Letzte hingegen sei eine Wahrheit, die nicht in unseren Händen liegt – was Religionen als gottgemacht bezeichnen. «Wir Menschen sind viel stärker von dem geprägt, was wir nicht kontrollieren können, als von dem, was in unserer Macht steht», so Schmid. Entsprechend könne niemand sagen, was das Letztgültige ist. «Wir wissen es nicht besser.»
Nirgends sonst als in diesem Punkt werde die Theologie derart missverstanden, fährt er fort. Er erwähnt als Beispiel die Präambel der Bundesverfassung. Diese beginnt mit den Worten: «Im Namen Gottes des Allmächtigen». Immer wieder komme der Vorschlag, die Präambel sei zu streichen, weil sie in der heutigen, säkularen Gesellschaft nicht mehr zeitgemäss sei – Gott habe in der Verfassung nichts zu suchen. «Dabei weist der Satz darauf hin, dass die Verfassung von Menschen und eben nicht von Göttern geschrieben ist. Dass wir eben nicht über die letzte Wahrheit verfügen.»
Dass die Bundesverfassung mit Gott beginnt, zeigt nicht nur, wie stark unsere Gesellschaft vom Christentum geprägt ist. Es bringt Konrad Schmid auch auf einen weiteren Gedanken: Sind die Kirchen hierzulande vielleicht auch darum auf dem Rückmarsch, weil ihre Funktion für die Gesellschaft längst erfüllt ist? «In der Bundesverfassung stehen Sätze wie ‹Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen›. Wenn es so ist, dass die Werte des Christentums im Staat aufgegangen sind, ja dann ist der Rückgang der Kirche für sich genommen keine Katastrophe.»